Die neue Überführung

 

Die neue Überführung

Die neue Überführung ist mehr als ein bloßes Hilfsmittel um dem regen Straßenverkehr

auszuweichen. Sie ist etwas besonderes, sie ist nicht nur die Verlängerung des

Stadtplatzes, sondern auch ein Treffpunkt und ein Podest, von dem aus man Umschau

halten kann. Indem wir die Überführung betreten , treten wir für wenige Augenblicke,

für einen Moment nur, aus dem Treiben der Stadt (aus) und stellen uns scheinbar über

die Dinge des Alltags. Die Überführung hebt uns aus der Masse hervor und lässt uns die

Welt aus einem anderen Standpunkt betrachten. Auf der Überführung treffen wir Schausteller des Lebens uns für einen kurzen, flüchtigen Moment,

der im Verweilen nicht festgehalten werden kann, sondern gerade dann seinen ephemeren Charakter am deutlichsten offenbart.

Dennoch sind es diese Momente, an denen wir uns festhalten und die uns glauben lassen, das Leben bestünde eben aus diesen einen Momenten, da wir den Blick freihaben.

Moment um Moment aneinandergefügt ergibt ein ganzes Leben.

Am höchsten Punkt der Überführung angekommen, halten wir inne und rufen in die Welt ein paar Worte über das Leben,

über unser Leben, über ein Leben für den Moment:

„ Tag für Tag bin ich über diese Straße gerannt, ich wollte das Leben nicht

aufhalten, sobald ich meine Chance zu erkennen glaubte, bin ich losgerannt. Vor die

Motorhauben der Eiligen habe ich mich geworfen und mit fest verschlossenen Augen die

wenigen Meter überwunden. Tag für Tag meisterte ich dieselbe Herausforderung.

Manchmal auch viermal an einem Tag. Irgendwann entschloss ich schließlich, sobald

ich die andere Straßenseite erreicht hatte, wieder in die Straße zurückzuspringen um zu

dem Punkt zu gelangen, von dem ich losgerannt war. Und so stürzte ich mich von einer

Seite der Straße zur anderen und es schien mir alsdann, die Welt zum Stillstand

gebracht zu haben. Diese Vorstellung ließ mich nicht mehr los und ich hastete von nun

an von hier nach dort und wieder zurück und wieder hin und her und wähnte mich im

Glück, die Welt und die Zeit festzuhalten und auf diese Weise mein Leben auszudehnen,

während die anderen ja nichts davon merken konnten. Meine List machte sich

unheimlich bezahlt, doch man begann mit dem Bau der Überführung und stellte sie

innerhalb kürzester Zeit fertig.

Voller Misstrauen näherte ich mich dieser neuen

Situation. Die ersten Schritte tat ich mit großer Vorsicht, die Zeit würde nun ganz ohne

mich weiterlaufen, ich würde sie gleichsam überspringen, ich würde an einem

bestimmten Punkt aus ihr treten und mich an anderer Stelle in den Zeitfluss wieder

einfügen.

Ich schlich über die Überführung und mit jedem Schritt, den ich höher stieg,

wurden mir bestimmte Dinge, die ich so nie gesehen hatte, deutlich.

Ich sah die vielen Menschen auf der Straße und den Platz und beobachtete. Mir wurde klar, dass wir uns

tagtäglich finden, um die Wiederholung der Wiederholung zu vollbringen.

Wir zelebrieren die Wiederholung zu wiederholtem Male, wir feiern dieses Leben,

bis wir Licht auf den Schatten werfen, indem wir verschwinden. Für einen Moment.

Wir sind Reisende in die Wiederholung, wir reisen ohne Rast.

Die Landschaft läuft mit

uns um die Wette und ist stets vor uns am Ort, der kein Ziel sein kann.

Die Sterne ziehen am Himmel vorbei, wir hetzen weiter, die Sonnen schlagen einen Bogen über uns

und tauchen unter für einen Moment.

Der Moment ist flüchtig, wie jener auf der Überführung, die einen Bogen schlägt über die Straße und dasteht

als Sinnbild für den Augenblick, in dem man sich eines Lebens bewusst wird, das jenseits der Straßenseiten

spielt. "

veröffentlicht von ala